Nachts in Wiesbaden

Eine Kurzgeschichte

Ich bin seit vierzig Jahren Rechtsanwalt und seit fünfunddreissig Jahren Notar. Ich habe in all den Jahren viel erlebt. Aber das, was sich im letzten Sommer zugetragen hat, ist so einmalig, so wunderbar und so tragisch zugleich, dass ich Ihnen davon erzählen muss.

Meine Kanzlei befindet sich Wiesbaden in der Wilhelmstrasse. Wenn ich aus dem Fenster in der ersten Etage schaue, blicke ich auf das Kurhaus, das Staatstheater und die davor liegende Grünanlage. Im Kurhaus befindet sich die Wiesbadener Spielbank, in dem Gebäude links davon dessen Ableger, das Automatenspiel. Und um das Automatenspiel geht es in meiner Geschichte, wenn auch nicht nur.

Verlasse ich das Haus in dem sich meine Kanzlei befindet und wende meine Schritte nach links, so komme ich an einem der schönsten Altbauhäuser der Stadt vorbei. Ich bleibe dann oft dort stehen und betrachte bewundernd die Fassade. Das eine oder andere Mal habe ich einen älteren Herrn getroffen, der gerade aus der Haustür trat. Er sah immer sehr gepflegt aus, war in der wärmeren Jahreszeit mit einem feinen Sakko, bei kühleren Temperaturen mit einem eleganten Mantel bekleidet und trug immer eine Krawatte. Wir haben uns dann gegenseitig freundlich gegrüsst ohne jemals ein Gespräch miteinander begonnen zu haben.

An einem Mittwoch im Juni wollte ich gerade meinen täglichen Spaziergang zur Mittagszeit beginnen. Ich schloss gerade die Haustür hinter mir, da kam mir jener ältere Herr entgegen, von dem ich eben sprach. „Guten Tag, sie sind doch der Rechtsanwalt hier im Haus?“ fragte er mich. Ich nickte und dann sagte er: „Ich wollte zu Ihnen.“ 

„Ich habe gerade meine Mittagspause begonnen“, entgegnete ich. „Aber wenn Sie einverstanden sind, dann können wir gemeinsam durch den Kurpark spazieren und Sie erzählen mir Ihr Anliegen.“

Und so überquerten wir die Wilhelmstrasse an der nahe gelegenen Ampel und gingen in Richtung des Kurparks.

„So, was ist Ihr Anliegen?“ fragte ich. Er atmete einmal tief durch und begann:

„Mein Name ist Schneider, Dr. Artur Schneider. Ich bin Arzt und wohne seit fünfundfünfzig Jahre in meiner Wohnung in der Wilhelmstrasse. Zuerst allein, danach mit meiner Frau. Dann kamen unsere drei Kinder, die in der Wohnung aufgewachsen und inzwischen erwachsen sind und selbst Kinder haben. Meine Frau, sie war auch Ärztin, ist vor zwei Jahren verstorben und so wohne ich wieder allein. Ich glaubte bis an mein Lebensende in der Wohnung bleiben zu können. Zugegeben, sie ist inzwischen zu gross für mich. Aber in meinem Alter, ich bin jetzt zweiundachtzig, will man nicht mehr umziehen. Ich erinnere mich an die Worte meiner Grossmutter: Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Vor einem halben Jahr ist der Eigentümer des Hauses verstorben. Wir kannten uns gut, seit fünfundvierzig Jahren. Die Miete, die er verlangt hat, war immer fair. Nun planen seine Erben das Haus an einen Investor zu verkaufen. Der will die Wohnungen renovieren und sie dann als Eigentumswohnungen weiterverkaufen. Gestern habe ich ein Schreiben bekommen. Ich hätte ein Vorkaufsrecht. Das hört sich zunächst gut an. Aber wissen Sie, was ich bezahlen soll? 1,2 Millionen Euro! Das kann ich mir nicht leisten. Meine Frau und ich haben als Ärztin und Arzt beim Gesundheitsamt zwar gut verdient. Aber für das Studium der Kinder hatten wir auch viel ausgegeben, so dass ich nicht viele Ersparnisse habe. Und daher meine Frage: Können Sie als Anwalt da etwas machen? Ich meine, dass ich nicht ausziehen muss, wenn ich die Wohnung nicht kaufe.“

„Das kann ich so nicht sagen. Haben Sie das Schreiben des Investors dabei?“ fragte ich.

Er holte einen Brief aus der Innentasche seines Sakkos und reichte ihn mir.

„Ich werde es mir anschauen“ sagte ich. “Kommen Sie doch morgen um zwölf Uhr in meiner Kanzlei vorbei.“

Wir hatten die Runde durch den Kurpark auch schon beendet und verabschiedeten uns.

Am Abend las ich den Brief des Investors und suchte im Internet nach einschlägigen Urteilen für vergleichbare Fälle. Ich kam zu dem Schluss, dass die Aussichten für Herrn Schneider nicht besonders gut aussahen.

Nachdem ich zu Bett gegangen war, konnte ich nur schwer einschlafen, so sehr berührte mich die Sache. Ich erwachte am nächsten Morgen nicht besonders erholt und überlegte mir während des Vormittags, wie ich die schlechte Nachricht Herrn Schneider möglichst schonend beibringen konnte.

Punkt zwölf Uhr klingelte es. Ich bat Herrn Schneider in meine Kanzlei und bot ihm einen Platz an. Bevor ich etwas sagen konnte, begann er zu sprechen:

„Lieber Herr Anwalt, vergessen sie, was ich Ihnen gestern gesagt habe. Ich werde die Wohnung kaufen. Vielleicht sogar das ganze Haus.“

Vor Erstaunen verschlug es mir die Sprache. In dem Moment als ich sie wieder fand, klingelte Herrn Schneiders Mobiltelefon. „Entschuldigung“, sagte er und nahm das Gespräch an. Dann ging es ganz schnell. Er sprang auf und lief zur Tür. Ich hörte noch, wie er „Notfall“ rief, dann fiel die Tür ins Schloss.

Da sass ich nun an meinem Schreibtisch und war verwirrt. Gestern noch sagte mir Herr Schneider, er könne es sich nicht leisten die Wohnung zu kaufen und heute geht es plötzlich doch. Woher kommt die plötzliche Meinungsänderung, was war über Nacht passiert?

Ich sollte es drei Stunden später erfahren, als Herr Schneider zurück kam.

„Verzeihen Sie meinen unvermittelten Aufbruch vorhin. Meine Hausnachbarin, Frau Fabian, hatte einen leichten Herzanfall und ich musste Erste Hilfe leisten. Sie liegt jetzt im Bett und ist stabil. Ihre Tochter ist bei ihr.“

„Ist schon in Ordnung“, sagte ich, „Aber sie haben mich vorhin etwas ratlos zurück gelassen.“

„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Herr Schneider. „Aber ich bin ja zurück gekommen und will Ihnen meinen Sinneswandel erklären.“

Er sass jetzt aufrecht auf dem Stuhl und strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das ich beim gestrigen Spaziergang durch den Kurpark nicht gesehen hatte.

Dann begann er:

„Der heutige Erste Hilfe-Einsatz ist für mich der zweite innerhalb von vierundzwanzig Stunden, oder, genauer gesagt, zwölf Stunden. Gestern Abend konnte ich nicht einschlafen, immer wieder ging mir die Sache mit der Wohnung durch den Kopf. Als ich nach Mitternacht immer noch kein Auge zugetan hatte, stand ich auf und zog mich an, um spazieren zu gehen. Das ist sicher eine ungewöhnliche Zeit, aber um das Kurhaus herum ist auch so spät noch immer viel Betrieb. Ich überquerte die Wilhelmstrasse, ging am Staatstheater vorbei in Richtung Kurhaus. Da sah ich, wie ein junger Mann aus dem Kurhaus kam und die wenigen Stufen vor dem Eingang hinunter ging. Ich kannte den Mann, es war Herr Weber, mein Nachbar aus dem Erdgeschoss.  Am Vormittag hatten wir uns noch im Treppenhaus unterhalten. Er könne es sich auch nicht leisten die Wohnung zu kaufen und bemühe sich jetzt um eine neue Wohnung ausserhalb der Stadt. Herr Weber erkannte mich nun auch und lächelte mir freundlich zu. In diesem Augenblick knickte er um und stützte auf der letzten Stufe. Ich ging sofort zu ihm hin, um ihm zu helfen. Sein Knöchel war gebrochen. Ich griff zu meinem Mobiltelefon und und wählte die 112.

Wenige Minuten später kam der Notarztwagen. In der Zwischenzeit hatte Herr Weber mir noch erzählt, dass er gerade aus der Spielbank gekommen sei. „Ich dachte mir, vielleicht gewinne ich so viel, dass ich mir danach die Wohnung kaufen kann“, sagte er. Ich wusste nicht, ob er es ernst meinte oder nur scherzte. „Hier, da sind noch hundert Euro übrig“, ergänzte er und streckte mir den Schein entgegen. „Ich wollte gerade hinüber zum Automatenspiel gehen. Nehmen Sie das Geld und versuchen Sie Ihr Glück. Oder besser gesagt: Unser Glück. Den Gewinn teilen wir uns, jeder bekommt die Hälfte. Okay?“

Ich nickte und schon hatte man Herrn Weber auf der Trage in den Notarztwagen geschoben und das Auto brauste davon.

Es war inzwischen zwei Uhr in der Nacht geworden. Ich hatte zwar die Spielbank schon mal besucht, das ist aber schon viele Jahre her, aber beim Automatenspiel, da war ich noch nie gewesen. Und da sollte ich jetzt mitten in der Nacht mit den hundert Euro von Herrn Weber hingehen? Der Gedanke schien mir absurd. Trotzdem tat ich es.

Am Eingang verlangte man meinen Personalausweis aber kein Eintrittsgeld. Beim Betreten des Saales  machte ich wohl einen unsicheren Eindruck und so fragte mich einer der Angestellten, ob er mir behilflich sein könne. Er führte mich durch den Saal und erklärte mir die verschiedenen Spielmöglichkeiten an den jeweiligen Automaten. Am Ende der Führung sagte er mir noch, dass der Jackpot im Augenblick bei knapp einer Million Euro liege. Ich hatte zwar nicht jede seiner Erklärungen verstanden, auch nicht, was ein Jackpot ist und wie man ihn gewinnen kann. Nichtsdestotrotz setzte ich mich an einen der wenigen freien Automaten und begann mit dem Spielen.

Aus den hundert Euro wurden schnell vierzig, dann waren es plötzlich hundertzwanzig. Es ging auf und ab. Um drei Uhr hatte ich siebzig Euro in der Hand. Aber ich hatte ja noch eine Stunde Zeit bis zur Schliessung. Um halb vier hatte sich mein Bargeldbestand auf zweihundertzwanzig Euro erhöht und ich dachte ans Aufhören. Beim Hinausgehen blieb ich dann doch noch an einem der blinkenden Geräte stehen und versuchte mein Glück, ja, und das war mein Eindruck, ich forderte es heraus. Um viertel vor vier blieben mir noch fünfzig Euro übrig. Sollte ich damit nach Hause gehen? Nein, jetzt wollte ich ging aufs Ganze gehen und setzte die fünfzig Euro. Es kam mir alles so unrealistisch vor. Ich sitze mitten in der Nacht vor einem Spielautomaten, zu einer Zeit, zu der ich normalerweise schlafe. 

Plötzlich ertönt ein lauter Trommelwirbel, der Automat, vor dem ich sitze, spielt verrückt: Er blinkt und zischt, wir laut und wieder leise, wird hell und dunkel, eine Fanfare ertönt. Mehrere Angestellte kommen zu mir gelaufenen und umringen mich. Habe ich etwas kaputt gemacht, habe ich den Automaten falsch bedient? 

Ganz im Gegenteil! „Herzlichen Glückwunsch!“, rufen die Umstehenden. „Sie haben den Jackpot gewonnen!“

Der Gewinn betrug exakt 983.428,27 Euro. Ich hatte nun einige Formulare zu unterschreiben und hinterliess der Spielbank meinen Bankverbindung, damit sie mir das Geld auf mein Konto überweisen können. Wenn ich das Geld  jetzt aber mit Herrn Weber teilen soll, dann gäbe es ein Probleme geben, dachte ich.

Ich sehe, dass Sie etwas ungläubig schauen, Herr Anwalt. Nun, wie sollten wir die siebenundzwanzig Cent halbieren? Ich werde wohl Herrn Weber den gesamten Gewinn geben.“

Ich schüttelte den Kopf. Machte er einen Scherz oder meinte er es ernst? Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte ich. Was ist nur heute mit Herrn Schneider los?

Herrn Schneiders Mobiltelefon klingelte. Immer im ungünstigsten Augenblick, dachte ich. Herr Schneider sprang auf. „Frau Fabian“, sagte er und verschwand genauso schnell wie er es gestern getan hatte. Aus dem Treppenhaus hörte ich ihn noch rufen: „Ich bin gleich wieder da!“

Da sass ich nun, völlig ratlos. Ich kochte mir erst mal einen Kaffee und wartete.

Knapp zwei Stunden später kam Herr Schneider zurück. „Frau Fabian ging es schlechter. Ich habe sie ins Krankenhaus bringen lassen“ , sagte er. „Aber ich glaube ich bin ihnen noch eine Erklärung schuldig.“

„Allerdings“, forderte ich.

„Gut, dann erzähle ich Ihnen den zweiten Teil meiner Geschichte. 

Als ich nach dem Gewinn des Geldes nach Hause kam, war an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich setzte mich ans Fenster und blickte hinaus auf die Strasse. Es dämmerte schon und als es dann, so um fünf, richtig hell wurde, ging ich hinunter zum Briefkasten und holte mir die Tageszeitung hoch. Bei einer Tasse Kaffee blätterte ich sie durch. Auf der ersten Sportseite unten links stehen die gezogenen Lottozahlen vom Mittwoch. Ich weiss allerdings nicht was Lotto mit Sport zu tun hat. Aber das ist eine andere Geschichte. Als ich die Zahlen sah, wurde ich unruhig. Ich spiele seit fünfundzwanzig Jahren Lotto. Immer nur ein Feld, mittwochs und samstags. Immer dieselben Zahlen. Gewonnen hatte ich bisher nur geringe Beträge, nicht der Rede wert. Aber was sagten mir die Zahlen heute? Ich wollte es nicht glauben und schaute auf dem Zettel in meiner Brieftasche nach. Richtig, alle sechs richtig. Und auch die Superzahl stimmte. Wissen Sie, was das heisst? Genau! Jackpot! Soviel Glück kann man nicht haben, denken Sie. Das dachte ich bisher auch. Aber ich habe das Glück.“

„Und wieviel haben Sie jetzt im Lotto-Jackpot gewonnen?“ fragte ich.

„Das weiss ich noch nicht. Die Gewinnquoten werden erst heute Nachmittag veröffentlicht. Vielleicht jetzt gerade. Schauen Sie doch mal im Internet nach. Auf Hessen-Lotto.“

Ich ging zu meinem Computer und öffnete die Seite vom Hessen-Lotto. Und tatsächlich, die Gewinnquoten der gestrigen Lottoziehung standen da. Nur ein einziger hatte den Jackpot geholt, das muss dann wohl Herr Schneider sein. Und wieviel hatte er gewonnen? „ Sie haben 12.016.571,73 Euro gewonnen“, rief ich. Ich drehte mich um und sah in sein lächelndes Gesicht. 

Ich wendete mich wieder dem Bildschirm des Computers zu. Stimmt es, was ich eben gesehen hatte? Es stimmte! „Was sagen Sie dazu, Herr Schneider?“ fragte ich. Aber Herr Schneider antwortete nicht.

Ich drehte mich um und stellte fest, dass seine Gesichtszüge unverändert waren. „Herr Schneider, ist Ihnen nicht gut?“ fragte ich, bekam aber keine Antwort. Ich stand auf und ging auf ihn zu, da fiel sein Kopf zur Seite, die Augen geöffnet. Das Lächeln blieb auf seinem Gesicht bis der Notarzt eintraf, der das betätigte, was ich vermutet hatte: Herr Schneider war tot.

Ich habe mir die Mühe gemach, beide Gewinnsummen zu addieren: Es ergibt eine Gesamtsumme von exakt dreizehn Millionen Euro.

War die 13 Herrn Schneiders Glückszahl oder war sie seine Unglückszahl?

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