Neuer Zeithorizont für Nachhaltigkeit

Die beiden Wissenschaftler Sarah Evison und Leonard Creutzburg plädieren hier für ein grundlegendes Umdenken, was die Zeitlichkeit und den Planungshorizont in der Architektur betrifft.

Sarah Evison ist Historikerin und Philosophin. Sie studiert an der Universität Basel mit Schwerpunkt auf Infrastruktur- und Umweltgeschichte und ist Stipendiatin der Schweizerischen Studienstiftung.

Leonard Creutzburg ist promovierter Wirtschaftsgeograph, Ökologischer Ökonom und Politikwissenschaftler. Er forschte an der Universität Zürich zu Postwachstum, Suffizienz sowie Wirtschafts- und Umweltpolitik. Seit September leitet er das Büro des One Planet Lab in Zürich.

Inmitten der Klimakrise steht die Architektur vor einer kritischen Bestandsaufnahme ihrer eigenen Praxis. Schätzungen zufolge ist die Baubranche für knapp 40 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich und trägt dadurch erheblich zu den steigenden Temperaturen bei. Dennoch wird in Rekordtempo im- mer weiter gebaut. Abriss und Neubau scheinen zu einem allgegenwärtigen Mantra geworden zu sein, obwohl seit fünfzig Jahren über die „Grenzen des Wachstums“ diskutiert wird und der optimistische Fortschrittsglaube der Moderne spürbar an Kraft verloren hat. Und so ist nach Walter Benjamin die eigentliche Ka- tastrophe, dass es immer „so weiter“ geht. Aus diesem Grund brauchen wir eine radikale, nachhaltige Wende dringender denn je – auch in der Architektur. Im Grunde ist diese Forderung nichts Neues. Der Ruf nach umweltbewusstem Planen kam be- reits in den 1970er-Jahren auf. Seither hat sich in Sachen ressourcenschonendes und energieeffizientes Bauen viel getan. Es reicht jedoch nicht, neue Gebäude durch Nachhaltigkeitszertifikate minimal nachhaltiger zu gestalten, wenn die Steigerungs- logik gleich bleibt. Die Architektur braucht vielmehr einen „Temporal Turn“: Das bedeutet nichts weniger als ein grundlegendes Umdenken, was die Zeitlichkeit und den Pl nungshorizont betrifft.

Die allgegenwärtige Beschleunigung und der schwindende Zukunftshorizont im Angesicht der Klimakrise haben in den vergangenen Jahren ein neues Zeitempfinden hervorgebracht. Im Zuge dieser Entwicklungen hat sich in der Geschichts-wissenschaft der Temporal Turn angekündigt: Er verlagert den Fokus von der Zeit als physikalischer Kategorie, die eine chronologische Abfolge von Ereignissen beschreibt, auf die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins, in welchem Vergangenheit und Zukunft immer schon untrennbar miteinander verflochten sind und ein einzigartiges historisches Zeitempfinden schaffen. Die Krisenhaftigkeit der Gegenwart wird von vielen als Folge eines zeitlichen Orientierungs- verlusts gesehen. So legen die bei- den US-amerikanischen Historiker Jo Guldi und David Armitage in ihrem „History Manifesto“ (2014) dar, dass die multiplen Krisen der heutigen Zeit das Resultat einer kurzsichtigen Denkweise seien und plädieren für ein Denken in größeren Zeiträumen. Ihre Forderung richtet sich nicht nur an Historiker:innen, sondern ebenso an Politiker:innen oder Architekt:- innen. Wir müssen uns die Frage stellen: In welchen Zeithorizonten denken wir? Planen wir für die nächsten 20, 30 oder 50 Jahre? Oder für die nächsten 100 oder 200 Jahre?

Was bedeutet die Ausweitung des Zeithorizonts?

Eine Ausweitung des Zeithorizonts bringt unweigerlich das Problem der Antizipation der Zukunft auf den Plan. Was können wir überhaupt über mögliche Zukünfte wissen? Der Historiker Reinhard Koselleck prägte in seinem Buch „Vergangene Zukunft“ (1979) einige Grundüberlegungen der modernen Zukunftsforschung. Anhand des Begriffspaars „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ erläuterte er, wie sich in der Gegenwart die Erwartung der Zukunft immer aus der Erfahrung der Vergangenheit speist.

Seit Beginn der Moderne im 18. Jahrhundert begannen diese Grundkonstanten jedoch immer weiter auseinanderzugleiten. Während der Erfahrungsraum der Vergangenheit weiter anwuchs, schrumpfte zugleich der Erwartungshorizont, da eine Vielzahl an Innovationen das Leben in rasantem Tempo veränderte und sich die Zukunft immer weniger aus der Vergangenheit herleiten ließ und folglich als grundlegend anders vorgestellt wurde. Vielleicht ist diese imaginierte Andersartigkeit der Zukunft auch der Grund, weshalb der Futurismus im 20. Jahrhundert zu einer neuartigen Formensprache griff. Die Hinwendung zum avantgardistischen Design und das experimentierfreudige Erkunden neuer Materialien und Techniken markierte einen Bruch mit den als veraltet wahrgenommenen traditionellen Baustilen. Der Bildband „The Tale of Tomorrow“ (2016) dokumentiert verschiedene Meisterwerke der späteren futuristischen Architektur der 1960er- und 70er-Jahre, etwa von Oscar Niemeyer oder Le Corbusier. Doch was ist aus den Träumen des Futurismus geworden?

Der Futurismus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchdrungen vom Kult des Maschinenzeitalters. Marinettis „Manifesto del Futurismo“ von 1909 ist eine Ode an die Technik, die alles mit Geschwindigkeit verherrlicht. Wenige Jahre später übertrug Antonio Sant‘Elia die Ideen des Futurismus auf die Architektur. Bei den mechanisierten Städten der Zukunft sollte der Fokus ganz auf den Prinzipien Funktionalität, Geschwindigkeit und Effektivität liegen. Auch Le Cor- busier stellte sich 1921 in seinem Konzept der „machine à habiter“ vor, dass Häuser einst so funktional und effizient seien wie Maschinen. Die Technikbegeisterung des Futurismus hielt sich auch in der Nachkriegszeit. Die Architektur ließ sich vom Weltraum- und Atomzeitalter inspirieren, und der neue „Autofetischismus“ floss in die Stadtplanung ein. Retrospektiv lassen die Träume des Futurismus allerdings viel Unbehagen und Unverständnis zurück. Im Verlauf der 1970er-Jahre kehrte sich der utopische Zukunftshorizont des Futurismus in sein dystopisches Gegenbild. Immer deutlicher zeigte sich, dass die zuvor verherrlichte Technik und Beschleunigung ein maßgeblicher Katalysator der fort- schreitenden Umweltzerstörung war. Aber nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus ästhetischer Sicht hat die Trias von Rationalität, Funktionalität und Effektivität zu einer Verödung der architektonischen Landschaft geführt.

Dies rief auch unmittelbar Kritiker wie Alexander Mitscherlich auf den Plan, der in seinem Buch „Die Unwirtlich- keit unserer Städte“ (1965) seinen Unmut kundtat. Auch aus heutiger Sicht erscheinen „autogerechte Städte“ wie absurde Verirrungen. Ferner gab es in der Architektur Verfehlungen:

Seriell gefertigte Plattenbauten, aber auch die heutigen, überall hochschießenden kubusartigen Gebäude strahlen in ihrer tristen Uniformität häufig nichts weiter als Seelenlosigkeit aus. Wo Schönheit Funktionalität und Nutzen weicht, kehrt früher oder später Unansehnlichkeit ein. Zudem hat all dies den Menschen nicht nur von der Wohnkultur und seiner Umwelt entfremdet, sondern der Verlust baukultureller Werte hat auch die Lebensdauer von Gebäuden drastisch verkürzt.

Fatale Wachstums- und Gewinnorientierung

Es gibt kaum einen Vorgang, der aus ökologischer Sicht verschwenderischer und umweltschädlicher ist als die weitverbreitete Praxis des Abrisses und Neubaus. Für die Zukunft zu bauen, bedeutet daher, mit einem größeren Zeithorizont zu planen. Der Lebenszyklus eines neuen Gebäu- des soll nicht nur auf fünfzig Jahre angelegt werden – einen Zeitraum, für den man gegenwärtig die beim Bau anfallenden CO2-Emissionen berechnet –, sondern auf eine viel längere Dauer von einhundert Jah- ren oder noch mehr. Doch aus einer radikalen Nachhaltigkeitsperspektive ist die Sache klar: Wir müssen nicht mehr nachhaltig bauen, sondern überhaupt weniger bauen. Viele der gängigen Nachhaltigkeitsstrategien bleiben in der alten Logik verhaftet, dass neue effiziente Methoden und grüne Technologien die Umweltprobleme lösen werden. Bei einem wachstums- und gewinnori- entierten Bausektor laufen die dadurch erzielten Vorteile jedoch ins Leere: Denn wenn mehr gebaut wird, werden auch absolut mehr Ressour- cen benötigt (Rebound-Effekt). Deshalb fordern sowohl Daniel Fuhrhop in seiner Streitschrift „Verbietet das Bauen!“ (2020), als auch Vittorio Magnago Lampugnani in seinem neuen Buch „Gegen Wegwerfarchitektur“ (2023) eine Abkehr vom vorherrschenden Neubauwahn. „Baut dauerhafter, dichter und vor allem weniger!“, lautet Lampugnanis Credo gegen die kapitalistische Wegwerfideologie. Er hält viele als nachhaltig angepriesene Baumaßnahmen für kurzatmig und sieht eine langfristige Lösung einzig im Umbauen, Rückbauen und Weiterbauen. Nur so können über die Zeit effektiv Ressourcen gespart und die Zersiedelung der Landschaft verhindert werden. Ohne Suffizienz werden wir die Nachhaltig- keitsziele also nicht erreichen. Denn in den tragenden Strukturen von Ge- bäuden stecken mehr als 50 Prozent der Kohlenstoffdioxidemissionen, die es zu erhalten gilt.

Die Forderung einer Besinnung auf das Bestehende lenkt den Blick von der Zukunft zurück auf die Vergan- genheit. Beim Umgang mit dem architektonischen Erbe stellt sich die Frage, wie alte Bausubstanz wiederbelebt werden kann. Und zwar nicht nur einzelner Materialien wie beim Urban Mining, sondern ganzer Gebäudekomplexe. Dabei geht es weniger um eine originalgetreue Restaurierung wie beim Denkmalschutz, sondern vielmehr darum, die Vergangenheit als Möglichkeitsraum für die Zukunft zu begreifen. Planung muss – oder besser sollte – heutzutage gar nicht auf der „freien Parzelle“ beginnen, sondern mit dem Erhalt des Bestehenden. Und dabei stets im Bewusstsein, heutige Ansprüche mit künftigen Bedingungen zu verknüpfen, wie beispielsweise Anpassung an extreme Hitze.

Zwei gelungene Beispiele seien hier kurz erwähnt: Das erste ist der „Aldburgh Music Campus“. Er entstand 2009 aus einem stillgelegten Industriekomplex in Suffolk an der Ostküste Englands. Dem Architekturbüro Haworth Tompkins gelang es, die Fa- briken samt ihrer Patina, den Spuren der Zeit und ihrem besonderen Charme zu erhalten. Ein zweiter interessanter Vorschlag ist der „Valens Archway“ in Istanbul. Das türkische Architekturbüro Superspace hat 2017 bei einem Wettbewerb ein Projekt eingereicht, das ein vom Verfall und Abbruch bedrohtes Aquädukt retten sollte. Auf dem Bauwerk aus dem vierten Jahrhundert (!) sollte durch eine hölzerne Modulkonstruktion Wohnraum für die rasant wachsende Bevölkerung der Millionenmetropole geschaffen werden. Diese Ideen zeigen, wie alte Strukturen für die Zukunft nutzbar gemacht we den können.

Im Rahmen der Diskussion um die Zukunft der Architektur wird häufig eine direkte Verbindungslinie zwischen dem vergangenen Futurismus des 20. Jahrhunderts und dem neuen Futurismus des 21. Jahrhunderts gezo- gen. Dabei werden jedoch meist fundamentale Differenzen übersehen. Die Technikbegeisterung und die Beschleunigung haben nicht nur enttäuschte Hoffnungen, sondern auch eine zerstörte Natur zurückgelassen. Anstelle der Maschine muss daher die Natur treten. Inspiration dazu kann Lowtech-Design bieten, das Julia Watson in ihrem Buch „Lo-TEK“ (2020) aufgreift, bei welchem durch natürliche Materialien und Techniken die Natur als „Architektin“ genutzt wird. Neben dieser Neujustierung des Kompasses braucht die Ar- chitektur der Zukunft auch eine neue zeitliche Orientierung. Anstelle des Bruchs mit der Vergangenheit, der sich symbolhaft in der Praxis des Abrisses verdichtet, muss eine lebendige architektonische Erinnerungskultur treten. Die Zeit überdauert nur das, was gepflegt wird. Dauerhaftigkeit ist dem Sein nicht inhärent, sondern geht aus der menschlichen Kulturtätigkeit hervor. Die Erhaltung des architektonischen Erbes, das die alte Substanz gleichsam als Erinnerung an vergangene Zeiten für die Zukunft bewahrt, müsste die erste Pflicht einer nachhaltigen architektonischen Ethik sein. Allein durch diesen Temporal Turn kann eine Architektur geschaffen werden, die Bestand hat und den Herausforderungen der Zeit gewachsen ist.

Unser Dank gilt Reto Streit aus Zürich (Bühler Streit Architekten) für den spannenden Austausch im Vorfeld des Artikels.

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