Als Franz Kafka am Dienstag nach Ostern des Jahres 1914, es war der 14. April, von einem Besuch bei seiner Verlobten Felice Bauer in Berlin nach Prag zurückkehrte, lag vor seiner Wohnungstür ein an ihn adressierter Brief. Kafka hob ihn auf, betrat seine Wohnung, legte seine Sachen ab und setzte sich an den Küchentisch. Dort öffnete er den Umschlag, auf dem kein Absender angegeben war. Er fand eine maschinengeschriebene Einladung zu einem Treffen, das am kommenden Tag stattfinden sollte. Er möge sich bitte um zwanzig Uhr dreißig am Denkmal auf dem Wenzelsplatz einfinden. Dort werde er abgeholt. Das war alles, kein Name, keine Unterschrift.
Kafka war müde von der langen Bahnreise aus Berlin und legte sich bald zur Ruhe. Er schlief in dieser Nacht sehr unruhig, wachte immer wieder auf, wälzte sich im Bett hin und her. Die Gedanken an den Brief und das Treffen am nächsten Tag ließen ihn nicht los.
Als Kafka am Mittwoch erwachte, musste er sofort wieder an den Brief denken, war den ganzen Tag angespannt und konnte das Treffen am Abend kaum erwarten. Als die Dämmerung einsetzte, begann er sich für den Gang zum Wenzelsplatz fertig zu machen. Mitte April waren die Temperaturen bereits recht mild und so verzichtete er auf den Wintermantel, den er noch nach Berlin mitgenommen hatte.
Bereits zehn Minuten vor der genannten Zeit fand er sich am Denkmal ein. Die Sonne war gerade untergegangen und es wurde doch etwas kühler. Kafka bereute nun den Mantel nicht angezogen zu haben. Als er von einer entfernten Kirche den zweimaligen Glockenschlag vernahm, trat ein elegant gekleideter Herr auf ihn zu und bat ihn ihm zu folgen. Sie gingen nur wenige Schritte über den Platz zu einem schmalen Haus mit rotem Dach, blauer Fassade und gelben Fensterrahmen, das Kafka in der Vergangenheit nicht aufgefallen war, obwohl er schon hunderte Male den Wenzelsplatz überquert hatte und das Haus doch recht auffällig war.
Als sie sich dem Eingang näherten, öffnete sich automatisch die Pforte und sie traten in den Flur des Hauses, von dem aus eine Treppe sie in den ersten Stock führte. Von innen wurde eine Tür geöffnet und der elegant gekleidete Herr schob Kafka in den Raum. Die Tür schloss sich wieder und Kafka blickte auf einen runden Tisch, der sich in der Mitte einer kleinen Bibliothek befand. Kafka schaute sich um: Die Tür, durch die er eben den Raum betreten hatte, war verschwunden.
Die Regale mit Büchern reichten bis zur Decke. Alle Bücher sahen gleich aus, waren gleich breit und gleich hoch. Sie unterschieden sich lediglich durch die verschiedenen Farben der Buchrücken: Es erschien Kafka als hätte ein Drittel der Bücher rote, das andere Drittel blaue und das letzte Drittel gelbe Rücken. Und auf allen Buchrücken stand in großen Lettern KAFKA.
Kafka stand staunend und sprachlos vor den Regalen. Da hörte er plötzlich eine freundliche aber sehr bestimmte Stimme sagen: „Nehmen Sie jetzt drei Bücher unterschiedlicher Farbe aus den Regalen, legen sie diese auf den Tisch und setzen Sie sich zu uns.“
Kafka blickte sich um und da sah er, dass an dem Tisch drei Männer saßen. Der eine war ganz in Rot, der andere ganz in Blau und der dritte ganz in Gelb gekleidet. Kafka tat, was ihm die Stimme aufgetragen hatte: Er legte die drei Bücher auf den Tisch und setzte sich auf den vierten freien Stuhl. Dabei sah er, dass es drei Bücher mit jeweils einer von ihm geschriebenen Erzählung waren. Und Kafka bemerkte, dass auch die Gesichter und die Haare der Männer die Farben ihrer Kleidung hatten. „Dürfen wir uns vorstellen?“, fragte der Rote und sage, ohne eine Antwort abzuwarten: „Ich bin Georg Bendemann.“ Dann sprach der Blaue: “Ich bin Gregor Samsa.“ Schließlich der Gelbe: „Ich bin Josef K..“
Jeder der drei griff sich eines der Bücher: Georg Bendemann nahm „Das Urteil“, Gregor Samsa „Die Verwandlung“ und Josef K. „Der Process“ an sich und hielt es vor die Brust. „Wir haben Sie hierher eingeladen…“, begann Georg Bendemann und Gregor Samsa ergänzte: „… weil wir mit unserem Schicksal nicht einverstanden sind.“ „Wir fordern Sie auf mit uns gnädiger zu sein“, fuhr Josef K. fort.
Kafka zögerte einen Augenblick. Was sollte er jetzt sagen? Dann sprach er: „Das kann ich nicht. Alle Geschichten sind zu Ende erzählt. Ich kann nichts mehr ändern. Herr Bendemann, Sie haben sich in den Fluss gestürzt und sind dabei zu Tode gekommen. Herr Samsa, Sie wurden in ein Ungeziefer verwandelt und sind einsam gestorben. Und Sie, Herr K., Sie wurden im Steinbruch wie ein Hund erstochen. Aus, fertig. So ist es und so muss es bleiben.“
„Gut“, sagten alle drei gleichzeitig mit unbewegtem Gesichtsausdruck: „Wenn das so ist, dann wird das für Sie Konsequenzen nach sich ziehen.“ Und plötzlich standen zwei riesenhafte Männer im Raum. Sie trugen blutverschmierte lederne Metzgersschürzen und hielten Schlachtermesser fest in ihren beiden Fäusten.
Kafka wollte schreien, doch seine Stimme versagte. Dann richtete er sich im Bett auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Zum Glück war das alles nur ein Traum gewesen. Er stand auf, ging ins Bad und ließ sich kaltes Wasser über das Gesicht laufen. „Vielleicht soll ich auch mal was schreiben, das ein gutes Ende hat“, dachte er dabei. Und dieser Gedanke beschäftigte ihn noch den ganzen Tag.
Als er am Abend zum Denkmal am Wenzelsplatz ging, hielt er Ausschau nach dem rot-blau-gelben Haus von letzter Nacht, konnte es aber nicht finden. Sich dem Denkmal nähernd, erkannte er bereits von Weitem seinen Freund Max Brod. „Die Einladung sollte eine Überraschung sein“, rief ihm dieser zu. „Wo du doch über Ostern in Berlin warst, wollte ich dich nachträglich zum Lammbraten auf die Schützeninsel einladen. Und du kannst mir von Berlin und von Felice erzählen.“
Kafka nickte und sagte nur: „Lass deine Überraschungen in Zukunft bitte bleiben.“